Aktueller sportwissenschaftlicher Stand zum Dynamischen Dehnen


Von Alexander Hartmann

In den letzten Jahren haben sich etliche Forschergruppen in Deutschland intensiv mit der Thematik der Dehnübungen beschäftigt, was seinen Ausdruck auch in einigen wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten fand (Klee, 2003; Schönthaler & Ohlendorf, 2002). Eine intensivere Durchleuchtung des angeblichen Problemfeldes des dynamischen Dehnens, wie es zum Beispiel im koreanischen Karate seit Jahrhunderten unverändert praktiziert wird, erscheint insbesondere für die zum Teil erheblich verunsicherten Sportler und Trainer als sinnvoll. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich hierzu nur anmerken, dass ich seit 10 Jahren von meinem Karategroßmeister unter anderem in dieser Form geschult werde und ausschließlich positive Erfahrungen damit gemacht habe.

Dehnübungen werden in der Theorie als Mittel der Verbesserung der Beweglichkeit und als notwendige Ergänzung zu Kräftigungsübungen, um den Muskel nach intensiver Kraftbeanspruchung wieder auf die Ausgangslänge zurückzuführen, gesehen.

Das Dehnübungen als Maßnahme zur Vorbeugung von Verletzungen dienen sollen wird zwar häufig als weiteres Argument gebraucht, ist aber durch keine wissenschaftliche Studie belegt worden.

Bei der Auseinandersetzung mit Dehnübungen wird in der Regel ihre Funktionalität bzw. ihre Effektivität thematisiert. Unter Effektivität versteht man die Hervorbringung gewünschter Wirkungen durch bestimmte Maßnahmen. Das Effizienzkriterium berücksichtigt zusätzlich noch die Kosten-Nutzen-Relation, d. h. welchen Aufwand muss man betreiben, um welche Wirkungen zu erzielen?

Gewünschte Effekte eines Dehnprogramms könnten die Vergrößerung der Bewegungsreichweite, die Beseitigung von Muskeldysbalancen, die Verlängerung verkürzter Muskeln, die Abnahme der Muskelspannung, die Verbesserung der Entspannungsfähigkeit, die Verbesserung der Regenerationsfähigkeit, die Verhinderung oder Linderung von Muskelkater und Muskelverletzungen sowie letztendlich die Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit sein.

Die Muskeldehnung ist, glaubt man den Aussagen des klassischen Stretchings (Knebel, 1985), eine Allzweckwaffe mit unbegrenztem Potenzial mit grundlegender Bedeutung für alle Bereiche des Sports und täglichen Lebens.

Inzwischen gibt es zu einem Großteil der aufgeführten möglichen Effekte des Aufwärmens eine Vielzahl an Untersuchungen, die wissenschaftlich fundiert klären, welche Effekte für die Funktionalität der Dehnübungen zutreffen und welche nicht  (zum Beispiel Wydra, 1991 und 2002).

In einer Reihe von Veröffentlichungen wurden die im Sport bevorzugten dynamischen Dehntechniken kritisch unter Gesichtspunkten der Verletzungsgefahr unter die Lupe genommen. Auch unter dem Gesichtspunkt der optimalen physiologischen Durchführung wurde den weichen Stretchingtechniken eine höhere Effektivität nachgesagt (Knebel, 1985).

Ausgangspunkt der Kritik an dynamischen Dehnübungen waren die kritischen Darlegungen von Knebel (1985, 42 f.), der die zuvor von Anderson (1980) und Sölveborn (1983) geführte Diskussion zu den dynamischen Dehnübungen wieder aufgriff. Nach Knebel würde sich bei dieser Dehnmethode des federnden, wippenden und schwingenden Übens die Wirkung ins Gegenteil verkehren, da der Dehnungsreflex ausgelöst wird, der zur Kontraktion eines Muskels führt.

Bei dem Dehnungsreflex handelt es sich um einen Regelmechanismus zur Kontrolle der Muskellänge. Wird ein Muskel gedehnt, so führt dies über die Aktivierung der Muskelspindel und eine monosynaptische Erregung der Motoneuronen zu einer Kontraktion. Der biologische Sinn dieses Reflexes besteht in der Aufrechterhaltung des Haltetonus und darin, den Körper zum Beispiel bei Niedersprüngen vor Verletzungen zu schützen. Mit dem bekannten Schlag auf die Patellasehne wird dieser Reflex vom Arzt geprüft.

Um dies zu vermeiden, fordert Knebel funktionsgymnastische Dehnübungen nach dem Prinzip des sanften gehaltenen Dehnens, wie es bei den verschiedenen Stretchingmethoden angewendet wird.  (z.B. Antagonisten-Anspannungs-Stretching/Antagonist-Contract und Anspannungs-Entspannungs-Stretching/Contract-Relax oder einer Kombination von beidem, auch mit Fremddehnung).

Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Stretchingmethoden ist, dass der Muskel in der finalen Dehnungsstellung über einen längeren Zeitraum, 10-30 Sekunden, gehalten wird.

Dietrich, Berthold und Brenke (1985, 926) stellten 1985 hierzu fest, dass keine Untersuchungen vorliegen, die eindeutig die Überlegenheit einer Dehnmethode beweisen. Im Jahr 1991 publizierte Wiemann die Ergebnisse einer umfangreichen Längsschnittstudie und stellte fest, dass die im Allgemeinen von einem Dehnungstraining oder vom Stretching erwarteten Effekte wie Verminderung des Ruhetonus und Beseitigung einer Muskelverkürzung nicht nachgewiesen werden können (Wiemann, 1991, 305). Im gleichen Jahr sorgten Wydra, Bös und Karisch (1991) für eine Rehabilitierung des dynamischen Dehnens, indem sie zeigten, dass das dynamische Dehnen über einen Zeitraum von zwei Wochen dem statischen und dem postisometrischen Dehnen im Hinblick auf die Verbesserung der Bewegungsreichweite hochsignifikant überlegen war.

Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft können die verschiedenen Dehnmethoden je nach persönlicher Präferenz eingesetzt werden, auch und gerade das dynamische Dehnen, wenn es mit moderater Frequenz und Amplitude betrieben wird. In der Praxis hat sich auch eine Verbindung von dynamischer und statischer Ausführung des Dehnens, das „Federn und Halten“ bewährt.  (Weineck, 1994, 508 und Klee, 2002, 20 f.).

Weder Wiemann noch Wydra konnten nach einem gründlichen empirischen Vergleich des Stretchings mit dem dynamischen Dehnen nachweisen, dass das Stretching gegenüber dem alt hergebrachten rhythmisch-federnden Dehnen überlegen ist (Wiemann, 1993, 105 und Wydra 1991 und 1993).

Literaturverzeichnis

Dietrich, L., Berthold, F. & Brenke, F.. Muskeldehnung – eine wichtige trainingsmethodische Maßnahme. Theorie und Praxis, 34, 922 – 930, 1985.

Klee, A.. Methoden und Wirkungen des Dehnungstrainings. Schorndorf: Hofmann, 2003.

Klee, A. Circuit-Training, Bewegungskonzepte, Verlag Karl Hofmann, 2002.

Knebel, K.-P., Funktionsgymnastik. Reinbek: Rowolth, 1985.

Schönthaler, S. & Ohlendorf, K., Biomechanische und neurophysiologische Veränderungen nach ein- und mehrfach seriellem passiv-statischem Beweglichkeitstraining. Köln: Sport und Buch Strauß, 2002.

Sölverborn, S.A., Das Buch vom Stretching, Beweglichkeitstraining durch Dehnen und Strecken, München: Mosaik, 1983.

Weineck, J., Optimales Training, veränderte und erweiterte Auflage Balingen, 1994.

Wiemann, K., Beeinflussung muskulärer Parameter durch ein zehnwöchiges Dehnungstraining. Sportwissenschaft, 21, 295 – 305, 1991.

Wiemann, K., Stretching, Sportunterricht, Schorndorf, 1993, Heft 3.

Wydra, G., Bös, K. & Karisch, G., Zur Effektivität verschiedener Dehntechniken. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 42, 386 -400, 1991.

Wydra, G., Muskeldehnung – aktueller Stand der Forschung. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 44, 104 – 111, 1993.

Wydra, G., Dynamisches Dehnen besser als Stretching? Gesundheitssport und Sporttherapie, 18, 124 – 128, 2002.

 

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